Einige Male bin ich in den letzten Wochen in die überraschende Situation geraten, mit mir nahestehenden Menschen ganz unerwartet im Dissens zu sein: Unsere Positionen und Haltungen zu den Gegebenheiten und Anordnungen jetzt in der Pandemie gehen auseinander. Ich bin ganz sicher niemand, der zügig oder unbedacht einer Regierung hinterher trottet und alles abnickt. Aber ich sehe die Zahlen der Neuerkrankungen, ich beobachte besorgt die Anzahl der Menschen, die wegen Covid19 im Krankenhaus behandelt werden müssen, ich begegne den Berichten von Menschen, die die Erkrankung durchgemacht haben mit großem Mitgefühl. Und ja, ich habe auch Angst, weniger tatsächlich um mich, als mehr um mir wichtige Menschen, Verwandte und Freunde.
Ich hatte nun in den letzten Wochen einige Diskussionen über den Sinn und Zweck der Eindämmungsmaßnahmen, aber auch über die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft, über die Bewertung von abweichenden Einschätzungen einzelner Wissenschaftler. Und heute morgen nun sogar in einem Gespräch die Situation, dass mein Gegenüber ernsthaft von mir Akzeptanz für das Vertreten ganz offensichtlich verschwörungstheoretischer Quatschaussagen einforderte. Für mich steht völlig außerhalb des Diskutierbaren, wenn eine junge Frau, die sich häufig und offen auf Demonstrationen äußert, sich selbst in einer vergleichbaren Rolle wie Sophie Scholl sieht. Oder das in sozialen Medien behauptet wird, die Beregnung der Demonstranten am 18.11 in Berlin durch die Polizei sei der allererste Wasserwerfereinsatz in der Geschichte des Landes gewesen. Was ein Unsinn! Und vor allem im zweiten Beispiel so unglaublich leicht zu überprüfen und zu widerlegen.
Ganz offenbar spaltet sich gerade ein Teil der Gesellschaft ab und erfindet sich eine eigene Wahrheit. Sie verlassen den gemeinsam geteilten Raum dessen, was wir Realität nennen können. Verständigung fällt schwer. Ich erlebe nun immer wieder einen schrillen Tonfall, Geschrei und Gezänk, wenn ich auf Offensichtliches hinweise. Auf kritische Nachfragen reagieren Menschen aus diesem Feld, meiner Erfahrung nach, häufig sehr gereizt und überspannt.
Es sind schwierige Zeiten. Viele Menschen haben ihr sicheres Auskommen und, zumindest für den Augenblick, ihre Lebensperspektive verloren. Dies braucht Verständnis. Und von Seiten einer solidarischen Gesellschaft auch Unterstützung und Hilfe.
Aber es wird wirklich gefährlich, wenn Menschen beginnen, sich abgelöst von jeder gesicherten Erkenntnis, eine neue, angenehmere "Realität" zu erschaffen. Wir sind frei, uns zu dem zu verhalten, was ist. Manchmal können wir ganz aktiv gestalten, was wird. Wir gestalten unser miteinander, im Dialog und in Begegnung. "Dialog" mit einem Virus bedeutet dabei allerdings nicht, ihn zu leugnen. Im Gegenteil: Schauen, beobachten, es dem Virus schwer machen neue Wirte zu finden; einen Impfstoff entwickeln mit dem unsere Immunabwehr eine Antwort an die Hand bekommt.
Schön wäre es an dieser Stelle ein Rezept zu kennen, das hilfreich dabei sein könnte, die sogenannten "Coronaleugner" wieder zurück in den gemeinsam geteilten Raum der Realität einzuladen. Ich habe keins zur Hand. Ich denke allerdings, es braucht Verständnis für Gefühle und Ängste einerseits, aber eine ganz klare Position gegenüber irrlichternen Behauptungen andererseits, denn sie sähen Zweifel und Zwietracht.
Es braucht sehr viel Kraft, sich dem Geschwurbel der selbsternannten Kritiker argumentativ und sichtbar entgegen zu stellen, dazu einen guten und sicheren Stand, mit beiden Füßen den realen Boden spürend. Und Mut.
Den werden auch die "Coronaleugner" aufbringen müssen wenn sie realisieren, dass es diesseits ihrer Phantasien und Vorstellungen eine Realität gibt, der sie sich irgendwann wieder stellen müssen und sie wieder in den gemeinsam geteilten Raum zurückkommen wollen.