Therapie in freier Gestalt

Wer bin ich, wenn ich so tue, nicht ich zu sein?

Maximilian Schinz • 30. November 2021

Wer bin ich, wenn ich so tue, nicht ich zu sein?

Kann ich aus meiner Haut? Und wenn ich es könnte, wäre ich dann noch ich? Mit dieser Frage reflektieren Menschen in Therapie zuweilen ihr eigenes Tun, vor allem wenn es immer wieder in Sackgassen endet.

Da ist der Wunsch, es wäre anders irgendwie.

Und gleichzeitig ist da die Verbundenheit mit dem Eigenen. „Bin ich noch ich wenn ich mein Verhalten ändere? Ich mein, das ist doch das, was mich ausmacht?!" sagte neulich eine Klientin und diese Frage hat mich noch ein wenig beschäftigt. Was von dem, was wir tun, was uns als Reaktion zu tun nahe liegt, ist frei und was ist fix, da es uns im Kern ausmacht? Wenn ich ein neues, ein anderes Verhalten lerne, bin ich dann noch ich?

Das ist ja jetzt eigentlich eher ein Thema aus dem Feld der Verhaltenstherapie. Die Kolleg:innen dort haben ganz wunderbar elaborierte Konzepte hierzu vorgelegt, theoretisch durchdacht und sicher ganz gewissenhaft empirisch beleuchtet. Und dann sagt da jemand, dem sie einen solchen Veränderungsprozess anraten, obigen Satz. Eine Verunsicherung wird deutlich, die ganz zentrale Frage berührend, was macht uns aus? Keine Ahnung, was die Kolleg:innen der Klientin geantwortet hätten. Meine Antwort als Gestalttherapeut möchte ich hier aber gern zur Verfügung stellen.

Mich ganz und gar anders zu verhalten als ich es für mich richtig finde, fühlt sich absolut künstlich an. Mag sein, das es mit der Zeit nur neuen Gewohnheit werden kann, aber auch da kann ich mir nicht sicher sein.

Schauen wir uns doch mal lieber an, was mein Verhalten (auch das im Raum stehend zu ändernde) so ausmacht. Wie komme ich dazu?

All mein Verhalten ist sichtbarer Ausdruck des Prozesses kreativer Anpassung und findet statt auf der Basis aller Erlebnisse, Erkenntnisse, Strategien, Überzeugen, innerer Haltungen, übernommener Werte und vielem mehr:

In jeder meiner Handlungen ist mein bisheriges Leben unverzichtbarer Hintergrund. Das zu leugnen müsste in der Reflexion als Selbstverleugnung spürbar werden. Ich teile als die Skepsis einem neu gelernten Verhaltensmuster gegenüber. Ist das in letzter Konsequenz, also über einen ersten Aha-Effekt in den ersten Wochen, hilfreich?

Anderseits: Ist Verhalten festgelegt ob meiner Lebens- und Leidensgeschichte? Ganz gewiss nicht! Auf der Basis meiner Geschichte werden Verhaltensmuster für mich nachvollziehbar und verständlich.

Aber dennoch habe ich vor meinem eigenen Hintergrund Handlungsspielräume, die es zu entdecken gilt. Manche Verhaltensmuster sind sehr fest, münden oft in der immergleichen Sackgasse. Man kann jetzt von einer offenen Gestalt sprechen, andere beschreiben dies vielleicht als dysfunktionales Muster. Sehr populär im Augenblick ist die Beschreibung dieses Phänomens als Schemata.

Ansatz meiner Arbeit ist es, dem Muster auf die Spur zu kommen und ein liebevolles Verständnis zu nähren: Wie konnte es diesen festen Platz bekommen? Wozu war es hilfreich und dienlich? Meines Erachtens ist die Anerkennung des eigenen Gewordenseins der Schlüssel zu neuen Handlungsmöglichkeiten. Auf diesem Weg offenbaren sich ganz oft Erlebnisse, in denen ein ganz bestimmtes Verhaltensmuster die einzige zum damaligen

Zeitpunkt greifbare Strategie zur Bewältigung waren. Manchmal gar notwendig, um das Überleben zu sichern.

Es braucht hier ganz sicher zunächst einmal eine Würdigung dieser kreativen Anpassung von einst. Und die kommt ganz klar vor einer irgendwie gelernten Veränderung.

Ein Wandel setzt dann meist auch von ganz allein ein: Durch das Schließen der offenen Gestalt (so nennen wir diesen Prozess) werden vormals gebundene Kräfte frei, der Blick weitet sich auf bislang nicht wahrgenommene oder nicht nutzbare Handlungsmöglichkeiten. Ich muss nicht raus aus meiner Haut. Ich spüre nach, wie es ist in meiner Haut zu stecken. Und komme gut mit dem in Kontakt, was mich berührt. Auf den Satz der Klientin von oben bezogen könnte man es vielleicht ganz gut so in Worte fassen: „Ich bin am Ende bestimmt nicht mehr der, der ich war. Ganz sicher aber mehr der, der ich immer auch schon war.“

Der Klientin riet ich übrigens, die eigenen Widerstände zunächst einmal wahr- und ernst zu nehmen. Darüber kamen wir ins Gespräch über das, was war in ihrem Leben und darüber, welche Rolle es in ihrem Leben spielte, wenn Menschen ihr kluge Ratschläge gaben, was sie jeweils tun, lassen oder verändern sollte. Dies war der Beginn einer aufregenden und spannenden Reise.


von Maximilian Schinz 14. April 2023
Neue, andere Aufgaben für eine Zeit...
von Maximilian Schinz 11. Dezember 2022
Ein guter Startpunkt für Veränderungen
von Maximilian Schinz 3. November 2022
... Die Praxis bekommt einen neuen Ort: Gneisenaustraß1 41
von Maximilian Schinz 20. Februar 2022
Angesichts eines Mangels an kassenfinanzierter Psychotherapie braucht es jetzt ein gutes Monitoring, damit Menschen einen fairen Zugang zu therapeutischen Leistungen erhalten und das Solidarsystem nicht Schaden nimmt.
von Maximilian Schinz 16. April 2021
Depressionen sind gemein und hinterhältig und gefährlich.
von Maximilian Schinz 13. Februar 2021
Therapie in freier Gestalt in neuen Räumen...
von Maximilian Schinz 25. November 2020
ist eine Hilfe, wenn die Gedanken kreisen und die Sorgen Karussell fahren
von Maximilian Schinz 24. November 2020
Wenn Menschen beginnen, ihre Wahrheiten selbst auszudenken.
von Maximilian Schinz 25. Oktober 2020
...erfreut auch das eigene Herz Die zweite Welle hat die Stadt erfasst und bei vielen Menschen liegen die Nerven inzwischen blank. Es ist unklar, wie sich die Pandemie weiter entwickelt. Menschen haben Angst um ihre Lieben, aber auch um ihre eigene Sicherheit, um ihre Jobs. Die Stimmung ist schnell sehr gereizt: In der U-Bahn, an der Supermarktkasse, auf der Straße. Es ist gut, wenn wir nun alle gut aufeinander aufpassen! Gibt es Menschen in Ihrem Umfeld, denen es gerade nicht gut geht? Machen Sie Ihnen eine kleine Freude: Ein Lächeln, ein frohes "Guten Tag", ein Blümchen...
von Maximilian Schinz 21. Oktober 2020
Hier schreibe ich ab und an ein paar Zeilen. Über Erlebnisse, Themen die mir begegnen und versuche, ein paar kleine Einblicke in meine Arbeit zu geben. Natürlich informiere ich hier auch über Veränderungen, neue Angebote und Tipps zu Veranstaltungen!
Weitere Beiträge
Share by: